Story

Vom Geist in den Magen

Von einer Kultur der Geistesnahrung zu den Küchen der Magensättigung

"Mir ist zu Ohren gekommen, oh du glücklicher weiser König. Möge Dir ein langes Leben beschert sein…"

Im Okzident wurde Marokko in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch die Stadt Casablanca berühmt, was auf den weltweit bekannten gleichnamigen Film zurückzuführen ist. Heutzutage ist das Land durch seine schöne Stadt Marrakesch bekannt, die in vergangenen Epochen die Hauptstadt dreier Dynastien war: Der Almoraviden, der Almohaden und der Saadier.

Die Wichtigkeit der Stadt Marrakeschs basiert nicht auf ihrer vergangenen Hauptstadtrolle, sondern auf ihrem herausragenden, berühmten Platz, dem Djemaa El Fna.

Dieser Platz war stets ein Pilgerort für Besucher aus aller Welt. Durch ihn, dem Herzen der Stadt, gelang Marrakesch zu weit verbreitetem Ruhm. Dieser einzigartige Platz, der einem Freilichttheater ähnelt, bietet jeden Tag und jede Nacht, das ganze Jahr über, seinen Besuchern mannigfaltige Darbietungen. Er ist ein Treffpunkt arabischer, berberischer, afrikanischer und sogar westlicher Kulturen.

Er ist das Bindeglied zwischen vielfältigen Welten auf der einen Seite zum Labyrinth der Altstadt, und auf der anderen Seite zur Neustadt Guéliz. Mit wenigen Schritten über den Platz, bewegt man sich von der digitalen bis in die mittelalterliche Welt hinein.

Seit der Gründung der Stadt im Jahre 1070 n. Chr., spiegelt der Platz die architektonischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen bis zum heutigen Tag wider. Ursprünglich war der Platz ein Schauplatz der Armeen, auf ihrem Weg die Landesgrenzen auszudehnen. Er war ein Handelsmarkt mit unterschiedlichen Gewerken. Mit dem Bau der Koutoubiah Moschee in der Epoche der Almohaden im Jahre 1147 nahm die Bedeutung des Djemaa El Fnas zu. Der Platz um die Moschee wurde zu einem belebten kulturellen Ort, an dem mit Büchern und Schreibwaren gehandelt wurde.

Wie auch mit der Namensgebung Marrakeschs gibt es zur Namensgebung des Platzes Djemaa El Fna unterschiedliche Meinungen. Einerseits verbinden die Marokkaner den Namen des Platzes mit einer Moschee, die jedoch einstürzte und mittlerweile verschwunden ist. Geschichtlichen Quellen zufolge, stand diese Moschee in der Mitte des Platzes. Man sprach vom Platz der „El Fna Moschee“, der zerstörten Moschee.

Im Westen stand der Name El Fna für Exekution. Der Westen liegt damit jedoch nicht falsch, denn der Platz diente vor nicht allzu langer Zeit als Ort, an dem die Köpfe der Rebellen und derjenigen, die sich gegen die Machthaber gestellt haben, zur Schau gestellt wurden.

Der große Zulauf an Besuchern aus Marrakesch und außerhalb der Stadt ist den vielfältigen künstlerischen Darbietungen geschuldet, welche die Musiker, Akrobaten, Schlangenbeschwörer, fliegenden Verkäufer und Medizinmänner täglich anbieten. Ihre Darbietungen auf dieser großen offenen Bühne sind die täglichen Besuchermagneten.

An erster Stelle dieser Straßenkünstler stehen die Geschichtenerzähler, die vormals ihre Kunst in abgegrenzten und geschlossenen Räumen darboten, wie in Palästen des königlichen Harems, in Häusern wohlhabender Bürger und in Karawansereien in denen von weither kommende Händler unterwegs auf ihren Handelsrouten zusammentrafen. Später boten sie ihre Darbietungen auf öffentlichen Plätzen an, wie den Tages- und Wochenmärkten, sowie kleinen Plätzen am Stadtrand und in Cafés. Die Geschichtenerzähler waren es, die den Ursprung für die künstlerischen Darbietungen, die in ganz Marokko aufgeführt wurden, gelegt haben. Durch ihre lehrenden und erheiternden Geschichten haben sie breite Bevölkerungsgruppen erreicht. Allein durch ihre Sprachgewalt und meisterhafte Erzählkunst, vermochten sie ihre Zuhörer in ihren Bann zu ziehen und das manchmal für mehrere Jahre mit Epengeschichten wie die Antariah, die Ismailiah, Azaliah, Tausendundeine Nacht und anderen mündlichen Erzählungen.

Gedicht über den Platz Djemaa El Fna

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Diese Geschichtenerzähler waren das Sprachrohr der populären Meinung. Sie sprachen aus, was das Volk beschäftigte und ihre Gefühle ansprach. Sie waren die Wissensvermittler für das Volk und übersetzten die Schrift in mündliche Erzählung für die einfachen Menschen. Sie galten als Vermittler zwischen Volk und Wissen. Die Geschichtenerzähler bedienten sich dabei aus schriftlichen und mündlichen Überlieferungen und erzählten sie in einer Weise nach, die für einfache Menschen nachvollziehbar war.

Genauso wie Sheherazade ihre mündliche Macht auf Schahrayar ausübte, übten auch die Geschichtenerzähler ihren Einfluss auf ihr Publikum aus. Das Betraf sowohl ihren Lebensstil, als auch ihre Denkweise. Es führte sogar dazu, dass sich die Leute unbewusst beim Zuhören der Geschichten in die Charaktere hineinversetzten. Nachdem sie am Abend die Halqa verlassen hatten, blieben sie voller ungestillter Spannung zurück und mussten am darauf folgenden Nachmittag zurück kommen, um die Fortsetzung der Geschichte zu hören.

Ein Geschichtenerzähler hatte ein hohes soziales Ansehen bei den einfachen Menschen, denn er war ihr Seelenernährer und brachte Freude in ihre Herzen. Seine Geschichte ähnelte einem Film oder einer Phantasie-Serie, die Spannung, Liebesgeschichten, Action und gute Taten enthielt und sogar manchmal unter die Gürtellinie ging.

Diese Plätze, die sich meist außerhalb der Stadtmauer befanden, waren freie Orte, die sich der religiösen, moralischen und sozialen Kontrolle entzogen. An diesen Orten fanden die kreativen Erzähler einen guten Platz für ihre Straßenkunst. Sie fanden dort einen guten Nährboden zur Entfaltung ihrer Phantasie und ihren Vorstellungen von Liebe und Leben Ausdruck zu verleihen. Dort war die Gelegenheit, ihre sozialen und manchmal auch politischen Reden frei zu äußern, indem sie alles in Geschichten, Gedichten und Anekdoten verpackten.

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Diese Kunst des Erzählens verbreitete sich schnell, so dass sich die Geschichtenerzähler auf verschiedene Arten des Erzählens spezialisierten. Für jede Erzählart gab es ein anderes Publikum von Männern und Frauen mit ihren Kindern. Auf einem Platz wie zum Beispiel dem Djemaa El Fna in Marrakesch, Bab Al-Saakima in Fes, L‘Hdim in Meknès oder dem Bab El-Had in Rabat fand man gleichzeitig einen Erzähler, der von Tausendundeiner Nacht erzählte, einen anderen der aus dem Epos der Azaliah erzählte, ein dritter erzählte religiöse Geschichten, ein weiterer von heroischen Schlachten und ein anderer unweit von ihnen las aus einem Buch über die Araber und den Islam. Manchmal fand man sogar zwei Geschichtenerzähler, die die gleiche Geschichte abwechselnd erzählten oder sie mit Theaterrequisiten vorführten.

Alles, was zum sitzen geeignet ist wurde von den Zuhörern verwendet, selbst Steine oder Steinblöcke. Manche brachten täglich ihre eigenen Stühlchen mit, andere saßen auf Pappe, während wieder andere auf dem Boden Platz nahmen. Sie saßen, hörten zu, waren auf der Jagd nach jedem Wort aus dem Mund des Erzählers, so als wäre das Wort etwas Magisches, das zu einem Wunder führt. Der Einfluß des Geschichtenerzählers beschränkte sich nicht nur auf die einfachen Leute, sondern wirkte auch auf kultivierte Leute wie Schriftsteller, Forscher und Theaterleute.

Viele berühmte Menschen aus der Medienwelt haben seit den fünfziger Jahren dieses menschliche, mündliche Erbe in ihren Arbeiten und Theaterstücken benutzt und zeigen bis heute immer noch großes Interesse an der Kunst der Halqa. Manche von ihnen schreiben ihre Dissertationen darüber. Die Kunst der Halqa allgemein und die Kunst des Geschichtenerzählers im Besonderen sind die Basis der darstellenden Künste, die uns über soziale und politische Themen nachdenken lässt.

Leider wurde über diese lehrenden und künstlerischen Absichten nur theoretisch reflektiert und nicht in die Tat umgesetzt. Über eine Zusammenarbeit mit den echten Geschichtenerzählern, ließe sich viel von ihrem körperlichen Ausdruck und ihrer Fähigkeit der Präsentation erlernen. Ihre Fähigkeiten könnten in Theaterhochschulen und Universitäten miteinbezogen werden.

Solange diese Zusammenarbeit nicht zustande kommt, wird die Kunst des Erzählens aussterben, besonders durch die Zunahme der Digitalisierung. In ihrem heutigen Zustand ist diese Kunst nicht mit den elektronischen Massenmedien konkurrenzfähig.
Obwohl Marokko das letzte Land dieser Straßenkunst in der arabischen Welt ist, sind die meisten öffentlichen Plätze dabei, ihre ursprüngliche Rolle zu verlieren. Damit ist die Kunst des Geschichtenerzählens, die erste von Menschen aktiv gestaltete Kunstform, dabei, einen sichtbaren Rückfall zu erleben. Sogar auf dem berühmtesten Platz Djemaa El Fna findet man diese Kunst heute nicht mehr, obwohl er dafür bekannt ist.

Ausgehend von den kunstvollen Darbietungen und mündlicher populärer Kultur zur Nährung des Geistes und der Erheiterung, erfährt der Platz einen gefährlichen Wandel zu einem Ort der kulinarischen Darbietungen für die Sättigung des Magens. Diese nächtlichen Garküchen wuchern nach allen Seiten, um mit Halqas von runden Tischen die Plätze der Künstler einzunehmen, die von „Zuhörern des Magens“ und nicht von „Zuhörern der Künste“ umgeben sind.

Daran sehen wir wie der gestrige Geschichtenerzähler, welcher Respekt und einen gewissen sozialen Rang genoss und als treuer Wächter für eine hundertjährige, mündliche Kultur galt, beinahe zu einem Bettler wird indem er von den Passanten Geld für seine Arbeit verlangt, mit der er versucht, dieses weltweite, menschliche Erbe aufrecht zu erhalten. Diese Kunst braucht dringender als je zuvor eine neue Generation, die die Fahne des gesprochenen Wortes hoch hisst und das nicht nur im einheimischen Dialekt, sondern in anderen internationalen Sprachen mit ihren eigenen Ausdrücken und Bildern.

"…und es dämmerte. Scheherazade schwieg und kein Wort entsprang mehr ihren Lippen."